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Herr Oelsner Sie
schreiben in Ihrem Buch „Menschen haben nur ein Leben und dennoch
die Sehnsucht nach einem zweiten, einem anderen Leben!“ Der Narr
schlüpft in die Verkleidung und hinter die Maske, sie erlauben ihm
das zweite, das andere Leben.
Ist dieses närrische Verhalten Ausdruck des gespalten seins oder ist
der Narr noch normal?
Das zweite,
das zwölfte, das zwanzigste Leben führen zu wollen, ist allzu
normal. Der, der diese anderen Facetten in sich dauernd unterdrücken
muss, dem könnte es eher passieren, dass eines Tages aus dem
Innersten heraus etwas rumort und endlich einmal ans Tageslicht
drängt. Dann hat er aber keinen Einfluss mehr darauf und wir würden
von einer Psychose sprechen, wenn einer wirklich glaubt, er sei
Napoleon. Das Schöne am Menschlichen ist, dass wir in einem Spiel so
ritualisieren können, dass es überhaupt nichts Verrücktes haben
muss. Ein Schauspieler kann jeden Abend anders heißen, eine andere
Rolle spielen, er kein einmal schreiten wie ein König und danach
kriechen wie ein Bettler, er kann brüllen, rennen humpeln, er kann
immer andere Rollen annehmen. Wir, die wir im normalen Leben am
Bankschalter stehen, können das nicht. Aber wo werden wir diese
Sehnsucht los, wenn wir uns ab und zu fragen: „wie wäre es denn,
wenn …?“ Da bietet das Maskenspiel eine wunderbare Gelegenheit es zu
einer Zeit zu tun, wo es ohne Scham geschehen kann und wir unsere
Reputation in der realen Welt nicht verlieren. Das Spiel, welches
sich Karneval oder Fastnacht nennt, auch die Spielregeln liefert.
Die wichtigste Regel ist: „Es muss auch mal Schluss sein!“
„Löblich ist ein
tolles Streben, wenn es kürz ist und mit Sinn!“ sagt Goethe. Bezieht
man dies auf den Karneval, könnte man zu jeder Zeit im Jahr närrisch
feiern:
Woher kommt die zeitliche Festlegung des Karnevals, wie wir sie als
Karnevalisten kennen?
Die zeitliche
Begrenzung des Karnevals wird ausgehend vom Osterfest berechnet.
Vierzig Fastentage vor dem Osterfest liegt die Fastnacht, die Nacht,
bevor die Fastenzeit beginnt. Ohne Akzeptanz des Aschermittwochs,
die Nacht, in der „alles vorbei“ ist, gibt es auch keine Fastnacht.
Es stellt sich die Frage, wie fastet der moderne Mensch. Es geht
heute nicht mehr so sehr um den Verzicht auf Fleisch oder
Eierspeisen, sondern um das Bewusstsein der Umkehr. Karneval ist ein
Wendefest, ein Fest, dass uns wie ein Mikrokosmos den großen
Lebensentwurf schon einmal auf „Probe“ erleben lässt. Wir erfahren,
dass nach einem Höhepunkt auch wieder ein Abstieg kommt und wir den
nächsten Höhepunkt wieder erstreben möchten. Wir sehen, dass das
Leben ein Wellenbad ist und auch schon mal eine Achterbahn sein kann
und auch, dass es mit dem Tod endet. Ein solches Fest kann uns die
Akzeptanz des Abschiednehmens lehren. Das Wechselspiel ist das
Abbild des Lebens und Freude und Melancholie gehören zusammen.
„Fest der
Sehnsüchte“ titeln Sie Ihr Buch. „Ach wär` ich nur ein einzig Mal
ein schmucker Prinz im Karneval!“ Ist Bedeutsamkeit und Anerkennung
und das Streben danach zutiefst menschlich? Entschädigt der Karneval
für entgangene Lebenschancen?“
Ja, in der Tat
kann der Karneval, wie die Psychologen sagen, kompensatorische
Hilfen anbieten. Wir können das, was im echten Leben nicht so
richtig gelangt hat, auf der Spielwiese des Karnevals nacherleben.
Karneval ist eine „Spielwiese“ für Erwachsene, hier können sie noch
einmal spielen wie die Kinder und so tun, „als ob“.
Karneval bietet aber auch eine „Spielwiese“, um unsere Rolle, die
wir haben, zu optimieren. Es geht nicht nur darum, den Blaumann, den
wir am Arbeitsplatz tragen, zu tauschen gegen Strass und
Fasanenfeder. In einer demokratischen Gesellschaft ist es auch
schwierig, seinen Reichtum und seinen Stand zu zelebrieren, ohne
dass es anstößig wirkt, Neid hervorruft und peinlich wird. Nur zu
protzen macht unsympathisch, aber in der Rolle des Gönners,
Schokolade werfend durch die Massen zu fahren und damit zu zeigen
“Schaut her, ich kann es, und ich lass euch auch teilhaben!“, ist
auch ein schönes Gefühl. Man kann die Rolle, die man im realen Leben
spielt, im Karneval optimieren. Es ist das Schöne an dem Fest, dass
man nicht Gefahr läuft, darin kleben zu bleiben. Dafür sorgt der
Hofnarr und sorgen auch die anderen Jecken. Wer meint, er sei
wirklich der Prinz, den holt die Gemeinschaft wieder zurück auf den
Teppich. Es stärkt, wenn man erlebt, dass man wieder auf den Boden
der Tatsachen zurück kommt. Karneval ist eine wunderbare
Charakterschulung.
Ist der
Karnevalist am Aschermittwoch ein anderer, ein neuer oder der
gleiche Mensch?
Der
Karnevalist ist zunächst der gleiche Mensch, so wie der Schauspieler
geschminkt und ungeschminkt der gleiche Mensch ist. Wer im
närrischen Spiel erlebt, „ich bin auch wer!“,
der hat ein
neues Selbstbewusstsein, er kann aus diesem Spiel des Karnevals
etwas mitnehmen. Die Tür öffnen zu neuen Seiten seiner selbst, kann
das Karnevalsfest. Karneval ist ein Fest, dass die Alltagsregeln
teilweise außer Kraft setzt. Der Gehemmte hat es leichter, etwas
mehr aus sich heraus zu gehen. Es kann aber ebenso passieren, dass
die Enthemmung Maß vergessen lässt und auch die Extreme vorkommen
können. Aus dem Flirt kann Anmache, aus dem Schwips kann Suff
werden. Die Triebkräfte der Seele können sich Raum verschaffen.
Haltekräfte, die uns binden, sind im Fest enthalten, es sind die
Regeln des Brauchtums. Es gibt ein schönes Beispiel für eine solche
Regel.
Der Eid der Roten Funken, der Kölner Stadtsoldaten, enthält die
Passage: „… ich verspreche, ich will suffe, ich will suffe, so viel
wie der Magen ohne Biesterei kann jood vedrare!“ „ … So viel der
Magen ohne Probleme vertragen kann…!“, ist die eingebaute Bremse.
Ich gehe bis an die Grenze, ohne sie zu überschreiten und sollte es
mir einmal nicht ganz gelingen, habe ich meine Freunde, die mich
unterstützen, diese Grenzen einzuhalten.
Karneval und
Religion, Opium fürs Volk? Gibt es eine Beziehung zwischen Karneval
und Religion.
Karneval
stammt aus der Religion. Ohne Ostern keine Fastnacht, ohne Fastnacht
kein Karneval. Karneval ist ohne Religion nicht denkbar. Wie bereits
erwähnt, ist Karneval ein Wendefest. Die Menschen brauchen so etwas.
Im Mittelalter wurde Narrheit demonstriert, um sie zu überwinden,
der Mensch konnte in den „Spiegel“ schauen und erkennen, welche
Fliehkräfte in ihm stecken.
Karneval, ein
„Wendefest“ vom nüchternen Alltag in den ausgelassenen Karneval und
am Aschermittwoch wieder zurück in die Realität, zurück zur
Besinnlichkeit und dem Bewusstsein der Vergänglichkeit.
Muss man Christ
sein, um diese Wende von der Ausgelassenheit zur Besinnlichkeit zu
erleben?
Der Wechsel
von einem Zustand in einen anderen Zustand als ein ganz privates
Wendefest, kann auch von Menschen anderer Kulturen und Religionen
erfahren werden. Man denke an die Wende vom Fasten zum Zuckerfest im
Islam, wo Glanz und Essen angesagt ist, aber rekrutierend aus dem
Bewusstsein der anderen, der kargen Zeit. Dieses Grundphänomen kann
in der christlichen Religion, aber auch in der jüdischen oder
muslimischen Religion erlebt werden.
Wird der Mensch
durch den Karneval menschlicher? Ist der Mensch seinem Nächsten im
Karneval näher als im alltäglichen Leben?
Durch das
Rollenspiel im Karneval entdecken wir andere Facetten unseres
Menschseins. Das macht uns in gewissem Sinne menschlicher. Im
Karneval hat man die Chance, den anderen rascher zu erkennen und mit
ihm in Kontakt zu treten. Je mehr man aber zugedröhnt wird, sei es
mit Alkohol, oder auch akustisch, um so geringer ist die Chance, den
anderen kennen zu lernen. Ein gemeinsames Lied zu singen, ist kaum
noch möglich. Ich höre meinen Tischnachbarn nicht, ich höre nur die
Musik aus dem Lautsprecher.
Das Gebot der Stunde ist heute nicht die Forcierung und
Beschleunigung, oder die Optimierung des Karnevals, heute ist die
Entschleunigung des Karnevals das Gebot der Stunde. Es kommt nicht
auf übertriebene Pracht und Perfektion an. Es muss auch nicht sein,
dass eine gute Sitzung nur dann gut war, wenn ich mindestens einen
Prominenten aus Film oder Fernsehen gesehen habe. Ein Vortrag im
Pfarrkarneval zu einem Thema aus der Pfarre ist näher an den
Menschen dran, als ein geschliffener Vortag eines herumreisenden
Vortragskünstlers.
Muss man im
Karneval auch auf den „Putz hauen“? Ist es wichtig für den Menschen,
dass er auch mal die „Sau jagt“?
Es kann für
einen im Alltag stets diszipliniert lebenden Menschen wichtig sein,
auch einmal über die Stränge zu springen. Dies ist aber eigentlich
nicht das Wesentliche im Karneval. Die Kraft des Karnevals liegt
nicht im Lauten und im Verkleiden, obwohl dies dazu gehört, es ist
eher der Bereich zwischen den lauten und den leisen Tönen und die
Sehnsucht nach der Gemeinschaft neben dem Anarchischen auch das
Bewahrende.
Karneval ist ein Kunstwerk für einen Tag. Auf diesen Tag wird fast
ein ganzen Jahr lang hingearbeitet. Die Eruption am Rosenmontag hat
eine Vorbereitungszeit und nur der, der diese Zeit mitmacht, spürt
die Bremse die bewirkt, dass man kein Chaos und keinen Stress
verbreitet.
Karneval hat auch
die Funktion gehabt, die Obrigkeit auf den Arm zu nehmen. Was wird
aus dem Karneval, wenn die Obrigkeit sich selbst ad absurdum führt
und die Kirche nicht mehr die Bedeutung für Leben, Tod und den
Lieben Gott hat. Haben wir dann nur noch Party statt Karneval?
Die Gefahr
besteht. Der Karneval steht schon seit geraumer Zeit am Scheideweg
und ich glaube, man wird noch eine Zeit lang Parallelentwicklungen
erleben, Party dort und das, was andere den richtigen, den
brauchspezifischen Karneval nennen mögen auf der anderen Seite. Die
Politiker durch den Kakao ziehen, greift heute nicht mehr, das kann
Kabarett oder Comedy viel aktueller, spitzer, schärfer und manchmal
auch witziger. |