Warum Menschen Karneval brauchen

Wolfgang Oelsner, im Gespräch mit "karnevalinaachen.de"


 

   
 

Wolfgang Oelsner, Jahrgang 1949, ist Pädagoge und Jugendpsychotherapeut. In Köln leitete er die Schule in der Klinik für Kinder – und Jugendpsychiatrie der Universität Köln.
Neben zahlreichen Fachpublikationen hat Wolfgang Oelsner  Bücher zum Thema Karneval, darunter die Bücher „Goethe und die Narren“, „Karneval ohne Maske“, „Fest der Sehnsüchte“ oder auch den Karnevalsführer für Kinder „Karneval – wie geht das?“, geschrieben.
„Karneval ist eine „Spielwiese“ für Erwachsene, hier können sie noch einmal spielen wie die Kinder und so tun, „als ob“. Karneval bietet aber auch eine „Spielwiese“, um unsere Rolle, die wir haben, zu optimieren.“ sagt Wolfgang Oelsner.
Im Jahr 2008 ehrte der Bund Deutscher Karneval, im Rahmen seiner Jahrestagung in Aachen, Wolfgang Oelsner mit dem „Kulturpreis der deutschen Fastnacht“

 

 

 

Herr Oelsner Sie schreiben in Ihrem Buch „Menschen haben nur ein Leben und dennoch die Sehnsucht nach einem zweiten, einem anderen Leben!“ Der Narr schlüpft in die Verkleidung und hinter die Maske, sie erlauben ihm das zweite, das andere Leben.
Ist dieses närrische Verhalten Ausdruck des gespalten seins oder ist der Narr noch normal?

Das zweite, das zwölfte, das zwanzigste Leben führen zu wollen, ist allzu normal. Der, der diese anderen Facetten in sich dauernd unterdrücken muss, dem könnte es eher passieren, dass eines Tages aus dem Innersten heraus etwas rumort und endlich einmal ans Tageslicht drängt. Dann hat er aber keinen Einfluss mehr darauf und wir würden von einer Psychose sprechen, wenn einer wirklich glaubt, er sei Napoleon. Das Schöne am Menschlichen ist, dass wir in einem Spiel so ritualisieren können, dass es überhaupt nichts Verrücktes haben muss. Ein Schauspieler kann jeden Abend anders heißen, eine andere Rolle spielen, er kein einmal schreiten wie ein König und danach kriechen wie ein Bettler, er kann brüllen, rennen humpeln, er kann immer andere Rollen annehmen. Wir, die wir im normalen Leben am Bankschalter stehen, können das nicht. Aber wo werden wir diese Sehnsucht los, wenn wir uns ab und zu fragen: „wie wäre es denn, wenn …?“ Da bietet das Maskenspiel eine wunderbare Gelegenheit es zu einer Zeit zu tun, wo es ohne Scham geschehen kann und wir unsere Reputation in der realen Welt nicht verlieren. Das Spiel, welches sich Karneval oder Fastnacht nennt, auch die Spielregeln liefert. Die wichtigste Regel ist: „Es muss auch mal Schluss sein!“

„Löblich ist ein tolles Streben, wenn es kürz ist und mit Sinn!“ sagt Goethe. Bezieht man dies auf den Karneval, könnte man zu jeder Zeit im Jahr närrisch feiern:
Woher kommt die zeitliche Festlegung des Karnevals, wie wir sie als Karnevalisten kennen?

Die zeitliche Begrenzung des Karnevals wird ausgehend vom Osterfest berechnet. Vierzig Fastentage vor dem Osterfest liegt die Fastnacht, die Nacht, bevor die Fastenzeit beginnt. Ohne Akzeptanz des Aschermittwochs, die Nacht, in der „alles vorbei“ ist, gibt es auch keine Fastnacht. Es stellt sich die Frage, wie fastet der moderne Mensch. Es geht heute nicht mehr so sehr um den Verzicht auf Fleisch oder Eierspeisen, sondern um das Bewusstsein der Umkehr. Karneval ist ein Wendefest, ein Fest, dass uns wie ein Mikrokosmos den großen Lebensentwurf schon einmal auf „Probe“ erleben lässt. Wir erfahren, dass nach einem Höhepunkt auch wieder ein Abstieg kommt und wir den  nächsten Höhepunkt wieder erstreben möchten. Wir sehen, dass das Leben ein Wellenbad ist und auch schon mal eine Achterbahn sein kann und auch, dass es mit dem Tod endet. Ein solches Fest kann uns die Akzeptanz des Abschiednehmens lehren. Das Wechselspiel ist das Abbild des Lebens und Freude und Melancholie gehören zusammen.

„Fest der Sehnsüchte“ titeln Sie Ihr Buch. „Ach wär` ich nur ein einzig Mal ein schmucker Prinz im Karneval!“ Ist Bedeutsamkeit und Anerkennung und das Streben danach zutiefst menschlich? Entschädigt der Karneval für entgangene Lebenschancen?“

Ja, in der Tat kann der Karneval, wie die Psychologen sagen, kompensatorische Hilfen anbieten. Wir können das, was im echten Leben nicht so richtig gelangt hat, auf der Spielwiese des Karnevals nacherleben. Karneval ist eine „Spielwiese“ für Erwachsene, hier können sie noch einmal spielen wie die Kinder und so tun, „als ob“.
Karneval bietet aber auch eine „Spielwiese“, um unsere Rolle, die wir haben, zu optimieren. Es geht nicht nur darum, den Blaumann, den wir am Arbeitsplatz tragen, zu tauschen gegen Strass und Fasanenfeder. In einer demokratischen Gesellschaft ist es auch schwierig, seinen Reichtum und seinen Stand zu zelebrieren, ohne dass es anstößig wirkt, Neid hervorruft und peinlich wird. Nur zu protzen macht unsympathisch, aber in der Rolle des Gönners, Schokolade werfend durch die Massen zu fahren und damit zu zeigen “Schaut her, ich kann es, und ich lass euch auch teilhaben!“, ist auch ein schönes Gefühl. Man kann die Rolle, die man im realen Leben spielt, im Karneval optimieren. Es ist das Schöne an dem Fest, dass man nicht Gefahr läuft, darin kleben zu bleiben. Dafür sorgt der Hofnarr und sorgen auch die anderen Jecken. Wer meint, er sei wirklich der Prinz, den holt die Gemeinschaft wieder zurück auf den Teppich. Es stärkt, wenn man erlebt, dass man wieder auf den Boden der Tatsachen zurück kommt. Karneval ist eine wunderbare Charakterschulung.

Ist der Karnevalist am Aschermittwoch ein anderer, ein neuer oder der gleiche Mensch?

Der Karnevalist ist zunächst der gleiche Mensch, so wie der Schauspieler geschminkt und ungeschminkt der gleiche Mensch ist. Wer im närrischen Spiel erlebt, „ich bin auch wer!“,

der hat ein neues Selbstbewusstsein, er kann aus diesem Spiel des Karnevals etwas mitnehmen. Die Tür öffnen zu neuen Seiten seiner selbst, kann das Karnevalsfest. Karneval ist ein Fest, dass die Alltagsregeln teilweise außer Kraft setzt. Der Gehemmte hat es leichter, etwas mehr aus sich heraus zu gehen. Es kann aber ebenso passieren, dass die Enthemmung Maß vergessen lässt und auch die Extreme vorkommen können. Aus dem Flirt kann Anmache, aus dem Schwips kann Suff werden. Die Triebkräfte der Seele können sich Raum verschaffen. Haltekräfte, die uns binden, sind im Fest enthalten, es sind die Regeln des Brauchtums. Es gibt ein schönes Beispiel für eine solche Regel.
Der Eid der Roten Funken, der Kölner Stadtsoldaten, enthält die Passage: „… ich verspreche, ich will suffe, ich will suffe, so viel wie der Magen ohne Biesterei kann jood vedrare!“  „ … So viel der Magen ohne Probleme vertragen kann…!“, ist die eingebaute Bremse. Ich gehe bis an die Grenze, ohne sie zu überschreiten und sollte es mir einmal nicht ganz gelingen, habe ich meine Freunde, die mich unterstützen, diese Grenzen einzuhalten.

Karneval und Religion, Opium fürs Volk? Gibt es eine Beziehung zwischen Karneval und Religion.

Karneval stammt aus der Religion. Ohne Ostern keine Fastnacht, ohne Fastnacht kein Karneval. Karneval ist ohne Religion nicht denkbar. Wie bereits erwähnt, ist Karneval ein Wendefest. Die Menschen brauchen so etwas. Im Mittelalter wurde Narrheit demonstriert, um sie zu überwinden, der Mensch konnte in den „Spiegel“ schauen und erkennen, welche Fliehkräfte in ihm stecken.

Karneval, ein „Wendefest“ vom nüchternen Alltag in den ausgelassenen Karneval und am Aschermittwoch wieder zurück in die Realität, zurück zur Besinnlichkeit und dem Bewusstsein der Vergänglichkeit.

Muss man Christ sein, um diese Wende von der Ausgelassenheit zur Besinnlichkeit zu erleben?

Der Wechsel von einem Zustand in einen anderen Zustand als ein ganz privates Wendefest, kann auch von Menschen anderer Kulturen und Religionen erfahren werden. Man denke an die Wende vom Fasten zum Zuckerfest im Islam, wo Glanz und Essen angesagt ist, aber rekrutierend aus dem Bewusstsein der anderen, der kargen Zeit. Dieses Grundphänomen kann in der christlichen Religion, aber auch in der jüdischen oder muslimischen Religion erlebt werden.

Wird der Mensch durch den Karneval menschlicher? Ist der Mensch seinem Nächsten im Karneval näher als im alltäglichen Leben?

Durch das Rollenspiel im Karneval entdecken wir andere Facetten unseres Menschseins. Das macht uns in gewissem Sinne menschlicher. Im Karneval hat man die Chance, den anderen rascher zu erkennen und mit ihm in Kontakt zu treten. Je mehr man aber zugedröhnt wird, sei es mit Alkohol, oder auch akustisch, um so geringer ist die Chance, den anderen kennen zu lernen. Ein gemeinsames Lied zu singen, ist kaum noch möglich. Ich höre meinen Tischnachbarn nicht, ich höre nur die Musik aus dem Lautsprecher.
Das Gebot der Stunde ist heute nicht die Forcierung und Beschleunigung, oder die Optimierung des Karnevals, heute ist die Entschleunigung des Karnevals das Gebot der Stunde. Es kommt nicht auf übertriebene Pracht und Perfektion an. Es muss auch nicht sein, dass eine gute Sitzung nur dann gut war, wenn ich mindestens einen Prominenten aus Film oder Fernsehen gesehen habe. Ein Vortrag im Pfarrkarneval zu einem Thema aus der Pfarre ist näher an den Menschen dran, als ein geschliffener Vortag eines herumreisenden Vortragskünstlers.

Muss man im Karneval auch auf den „Putz hauen“? Ist es wichtig für den Menschen, dass er auch mal die „Sau jagt“?

Es kann für einen im Alltag stets diszipliniert lebenden Menschen wichtig sein, auch einmal über die Stränge zu springen. Dies ist aber eigentlich nicht das Wesentliche im Karneval. Die Kraft des Karnevals liegt nicht im Lauten und im Verkleiden, obwohl dies dazu gehört, es ist eher der Bereich zwischen den lauten und den leisen Tönen und die Sehnsucht nach der Gemeinschaft neben dem Anarchischen auch das Bewahrende.
Karneval ist ein Kunstwerk für einen Tag. Auf diesen Tag wird fast ein ganzen Jahr lang hingearbeitet. Die Eruption am Rosenmontag hat eine Vorbereitungszeit und nur der, der diese Zeit mitmacht, spürt die Bremse die bewirkt, dass man kein Chaos und keinen Stress verbreitet.

Karneval hat auch die Funktion gehabt, die Obrigkeit auf den Arm zu nehmen. Was wird aus dem Karneval, wenn die Obrigkeit sich selbst ad absurdum führt und die Kirche nicht mehr die Bedeutung für Leben, Tod und den Lieben Gott hat. Haben wir dann nur noch Party statt Karneval?

Die Gefahr besteht. Der Karneval steht schon seit geraumer Zeit am Scheideweg und ich glaube, man wird noch eine Zeit lang Parallelentwicklungen erleben, Party dort und das, was andere den richtigen, den brauchspezifischen Karneval nennen mögen auf der anderen Seite. Die Politiker durch den Kakao ziehen, greift heute nicht mehr, das kann Kabarett oder Comedy viel aktueller, spitzer, schärfer und manchmal auch witziger.