Wir fragten Gitta
Haller:
Wann war Deine
erste Begegnung mit dem Karneval, wie sah der Karneval früher aus?
„Das war 1932, ich war gerade mal vier Jahre, und ich kann
mich noch an paar Dinge erinnern. Da war der Karneval arm, aber
herzlich. Und außerdem war das nicht ‚Karneval’ sondern
‚Fastelovvend’. Er spielte sich in privaten Häusern, in den Familien
und in kleinen, alten, schönen Wirtschaften in Aachen ab. Es gab
auch Bälle - für die besser Betuchten. Die Leute, die nicht viel
Geld besaßen, zogen mit Musik über die Straßen. Das sahen andere
Menschen, und so kam schnell ein ganzes Clübchen zusammen. Sie
amüsierten sich!“
Wie feierte man
in der Vorkriegszeit den Karneval?
„Ich wurde ja im Haus an der Goldenen Kette geboren und
wohnte also eine lange Zeit mitten in Aachen. So bekam ich den
Karneval und auch die Rosenmontagszüge hautnah mit. Die Session
wurde damals nicht über Wochen gefeiert, sondern nur einige Tage.
Eigentlich merkte man auf den Straßen nicht viel vom Karneval - in
den Gaststätten und zuhause wohl. Es gab keine
Openair-Veranstaltungen, wie wir sie heute kennen. Auch die Kostüme
waren einfach. Man konnte sich ja aus dem Dirndl, was jedes Mädchen
hatte, schnell ein Kostüm machen. Da wurden Stoffreste, die wir
immer irgendwo besaßen, angeheftet. Du hattest ungeahnte
Möglichkeiten. So warst Du mit kleinen Hilfsmitteln mal
Bauernmädchen, mal Ungarin oder Zigeunerin. Die Jungs und die Männer
zogen damals als ‚August’ oder als ‚Lennet-Kann-Verschnitt’ mit
einem Köfferchen umher. Clowns, Cowboys und so weiter gab es noch
nicht.“
Entwickelte sich
der Karneval vor oder nach dem zweiten Weltkrieg?
„Eigentlich hat sich der Karneval vor dem zweiten Weltkrieg
nicht entwickelt. Durch den Krieg kam dieser Bruch, und dann ging
es aus der Armut heraus so weiter, wie damals. Das Nachholbedürfnis
war ja vehement. Wir wollten ja Karneval feiern. Deshalb waren wir
zu Karneval und zum Rosenmontagszug mit allem zufrieden. Mit den
alten, so genannten, ‚Prunkwagen’ kann man heute nicht mehr
existieren.“
Wenn man auf
einem Rosenmontagswagen steht, sieht man in viele Gesichter. Man hat
den Eindruck, die Leute wollen nur „grapschen, grapschen,
grapschen“. Ältere fangen den Kindern die Kamelle vor der Nase weg.
Wie war es nach dem zweiten Weltkrieg? Warf man auch Kamelle?
„Kamelle konnten wir nicht werfen. Um Gottes Willen, wir
hatten doch nichts! Wer gute Beziehungen nach Belgien hatte, konnte
billige Bonbons werfen. Das kam aber nicht häufig vor. Kamelle kamen
nur vom Prinzenwagen. Andere Zugteilnehmer warfen Luftschlangen. Die
Jecken am Zugrand wollten eher den Zug sehen. Heute stehen sie mit
umgedrehten Schirmen, um soviel Kamelle wie möglich zu erhaschen.“
Haben die
Alliierten während der Besatzungszeit mitgefeiert?
„Die Belgier kannten wahrscheinlich den Karneval und feierten etwas
mit - die Amerikaner ganz selten. Die Engländer feierten sowieso
nicht, sie waren sehr zurückhaltend. Der Karneval wurde von den
Alliierten geduldet. Wir durften uns wohl nicht maskieren, das war
verboten.“
Wurde früher
genauso viel Alkohol genossen wie heute?
„Nein, natürlich nicht. Es war ja auch kein Geld dafür übrig. Die
Älteren tranken den selbstgebrauten Kartoffelschnaps. Und sie waren
dann natürlich ganz schnell voll. Bier war damals schon etwas Edles.
Die Leute hatten damals auch nicht das Bedürfnis, sich so zu
betrinken. ‚Lachen, singen, sich freuen und alles für eine Zeitlang
vergessen’ - das stand im Vordergrund. Wir waren bescheiden und
verwöhnten uns mit Lachen und mit der Geselligkeit. Fastelovvend war
natürlich ein größeres Fest als Weihnachten!“
Gitta, Du bist
ein Urgestein im Aachener Karneval. Die Bühne ist Deine Heimat. Wie
kam es dazu? Hast Du eine „karnevalistische“ Ausbildung genossen?
„Meine
Ausbildung hatte nichts mit Karneval zu tun. Meine Mutter kam vom
Theater und hat ihre vier Töchter dann alles einstudiert. Wir tanzen
und sagten in Öcher Platt Menuetts aus ‚Figaros Hochzeit’ auf. Meine
Mutter dichtete alles auf kindliche Texte um. Das hatte aber alles
nichts mit Karneval zu tun. Wir traten überall auf, beispielsweise
im Mittelstandshaus oder im Alten Kurhaus. Das haben wir jahrelang
gemacht. Und dann kam der Krieg, und zuerst einmal war alles vorbei.
Mein erster Mann kam auch vom Theater. Ich folgte ihm nach dem Krieg
zum Theater. Fünf Jahre zog es uns nach Hamburg und nach
Niedersachsen. Was war ich froh, dann später wieder in Aachen zu
sein. Ich stieß so um 1950 in Aachen zum ‚Domgrafen-Ensemble’, das
aus Theaterleuten bestand. Unser Repertoire bestand aus Oper,
Operette, Musical, Tanz, Gesang und Sketch. Und direkt nach dem
Krieg drängte mich Pitt Bauendahl (1916 - 1998) dazu, meine
Fähigkeiten auch im Karneval unter Beweis zu stellen. Pitt wusste
auch, dass ich so etwas konnte. So fing es an, dass ich in
‚modernerer’ Form Tanz und Musik machte.“
War das
Akkordeon, der Quetschbüll, die ganze Zeit an Deiner Seite?
„Nein. Die Mitnahme des Quetschbülls entstand durch folgende
Situation. Wir hatten mit dem ‚Domgrafen-Ensemble’ beim Verein
‚Öcher Platt’ eine Veranstaltung im Neuen Kurhaus. Unser Auftritt
über zweieinhalb Stunden war auf Hochdeutsch. Und dann fragte sich
der Verein ‚Öcher Platt’, ob auch ein Beitrag in Öcher Platt kommen
kann. Und sie fragten mich, weil ich meiner Heimatsprache mächtig
war. Mir fiel ein, dass Hein Görgen (1891 - 1980) schon für die „Tant
Brigitta“ ein Lied geschrieben hat: ‚Tant’ Brigitta mit de Gittar’.
Ich habe es dann dem Chef vorgesungen. Er schrieb die Noten des
alten Liedes auf, weil sie nicht mehr existierten. Das Lied habe ich
etwas umgedichtet und bezog es auf den Quetschbüll. Dann habe ich
mich das erste Mal mit dem Quetschbüll selbst begleitet. Und so ist
der Quetschbüll geblieben. Ich habe später selbst Lieder geschrieben
und sie meinem Publikum vorgesungen.“
Können wir uns
schon darauf freuen, Dich in der kommenden Session auf einer
Bühne zu erleben?
„Mich erwischt Ihr nur bei den Seniorensitzungen der Stadt Aachen im
Eurogress und natürlich bei den Karnevalssitzungen beim Öcher
Schängche in der Barockfabrik am Löhergraben. Und dann singe ich für
Euch - also auf besonderen Wunsch von karnevalinaachen.de - das Lied
von der Tant Brigitta.“
Neben Deinem
Gesang und Deinem Akkordeon unterhältst Du Dein Publikum ja auch
mit Sketchen und Reden. Wie entwickeln sich Deine Reden und Pointen?
„Es sind bei mir ja immer nur Gespräche, die ich aktuell in Aachen
mitbekomme. Entweder beschreibe ich einen Geburtstag, eine Hochzeit
oder einen Besuch im Schwimmbad. Ich rede also vom Zusammenkommen
von Menschen, und was sie dabei denken. Du kannst auf der Bühne
keine Witze erzählen. Du musst aus dem Geschehen erzählen. Es gibt
Leute, die erzählen ganz tolle Witze - aber ohne Zusammenhang. Du
musst ein Bild schaffen. Ich spreche auch direkt das Publikum an -
aber ohne aufdringlich zu wirken. Die Leute sehen das, was ich sage.
So vergessen ich auch keine Texte, weil ich ja eigentlich eine
Geschichte erzähle, die ich sehe.“
An welche
lustige Begebenheit erinnerst Du Dich gerne?
„Mensch Kinder, wenn ich Euch das erzähle … Also, Pitt Bauendahl
empfing uns mal zu einem karnevalistischen Nachmittag im
Elisenbrunnen. Die fingen um halb drei Uhr an, und die Leute standen
bereits um ein Uhr vor der Tür. Pitt sah uns und schrie ganz laut
‚Alaaf’, und ihm fielen dann seine Zähne raus … Er kam zu uns, und
fragte, ob wir Haftcreme für ihn hätten. Später ist es ihm noch mal
passiert. Bei jedem Auftritt haben wir dann Pitt gefragt, ob er auch
seine Haftcreme dabei hätte.“
Welche
Veranstaltung würdest Du einem karnevalistischen Anfänger empfehlen?
Die Seniorensitzungen der Stadt Aachen im Eurogress. Dort treten
alle auf, die im Aachener Karneval Rang und Namen haben. Das ist bei
keiner anderen Sitzung gewährleistet.
Gibt es für
Dich einen Lieblingsplatz im Aachener Karneval?
„Das Kommandantur-Frühstück der Oecher Penn am Rosenmontagmorgen
gibt so ein herrliches Bild ab. In der Aula Carolina sitzen an
langen weiß gedeckten Tischen nur Uniformierte. Was für ein schöner
Anblick, das ist toll, das ist wunderbar. Ich darf da sogar als Frau
darein. Es ist auch ein schönes Bild, wenn Du am Fettdonnerstag auf
der Rathaus-Treppe stehst und den Menschen auf dem Aachener Markt
beim Feiern zuschauen kannst. Und noch schöner ist es auf dem
Burtscheider Markt. Da knubbeln sich ja die Leute. Da trinken die
Menschen nicht so viel, wie auf dem Aachener Markt. Der Karlsbrunnen
reißt das Publikum in zwei Hälften. Die Vorderen feiern mit, die
Hinteren trinken sich die Hucke voll.“
Ist uns der
Karneval zwar lieb aber zu teuer?
„Das liegt an den Menschen selbst. Wenn wir junge Menschen finden,
die bemüht sind, den Karneval wieder ins rechte Gleis zu bringen,
dann wird sich auch die Euphorie im Kaufen wieder einschränken.
Heute muss man das schönste und teuerste Kostüm zu Karneval haben.
Es wird ja auch angeboten. Nicht jeder einzelne muss sich so teuer
einkleiden!“
Die
bekannteste Sitzung im Aachener Karneval ist die Verleihung des
Ordens „Wider den tierischen Ernst“. Wie siehst Du diese Sitzung?
„Die Verleihung des Ordens ist keine Sitzung mehr. Es ist ein
karnevalistischer Festakt, eine Gala, und leider keine typische
Aachener Sitzung mehr. Es fehlen zuerst einmal die Öcher im Saal.
Bei der Veranstaltung sitzen zu viele auswärtige Prominente, Ritter,
Bodyguards und so weiter im Saal. Und dann wird der Festakt in
Hochdeutsch übertragen. Kölsch Platt verstehen die Zuschauer eher,
als Öcher Platt. Hier fehlt doch was. Und das Fernsehen macht ja
auch noch Vorgaben, die der Öcher Fastelovvend dann umsetzen muss,
obwohl sie nicht zu uns passen.“
Wenn Du im
Karneval das Sagen hättest, was würdest Du ändern?
„Der Karneval ist zu laut. Wenn Du heute zu Karneval über die
Straßen gehst, schallt es von überall volle Pulle - direkt auf Dich
zu. Das ist ein Faktor, der für mich viel kaputt macht. Es dröhnt
nur Musik aus den Lautsprechern. Es ist zu laut. Wenn Du zu Karneval
über die Straße gehst und willst in ein Lokal gehen, und ein Mann
steht mit einem Quetschbüll vor der Wirtschaft, glaub nur, dass es
da drin brechend voll wird. Es ist auch egal, ob er den Quetschbüll
beherrscht oder nicht gut singen kann! Der Karneval muss wieder
bescheiden und herzlich werden.“
Wie bewertest
Du die Neuerscheinungen und Neuauflagen von Veranstaltungen, wie
beispielsweise „Carnevale“ und „Florreisei-Palast“?
„Die Veranstaltungen begrüße ich. Sie finden in geschlossenen Räumen
statt. Bei diesen Veranstaltungen wird deutlich, dass die Jugend ein
wenig von dem Karneval mitbekommt. Wobei auch bei diesen
Veranstaltungen laute Musik gespielt wird. Ich glaube, die extreme
Lautstärke bekommen wir auch nicht mehr weg. Irgendwo ist aber auch
noch ein bisschen Herz bei den Veranstaltungen. Also haben auch die
jungen Leute das Bestreben, den Karneval zu erhalten.“
Bei der Suche
nach neuen Karnevalsliedern gab es beim Aachener Karnevalsverein den
„Chartbreaker“. Talentierte Gruppen und Einzelsänger
wetteiferten um den Hit der Session. Wäre ein Wettbewerb ein Weg zu
neuen Karnevalsliedern zu kommen?
„Das sehe ich überhaupt nicht so. Ein Hit kann sich erst vor vollem
Saal ergeben. Wir sind hier in Aachen in der Situation
benachteiligt. Bevor andere Karnevalshochburgen neue
Fastelovvend-Schlager haben, wird zuerst alles ausprobiert. Die
Technik macht es ja auch möglich. Dann kommt er sofort auf jede
Bühne. Den neuen Schlager hörst Du und hörst Du und hörst Du. Und zu
Fastelovvend können die Leute ihn summen oder sogar schon mitsingen.
Bei uns in Aachen müssen die Menschen den Schlager lernen. Da kommt
zuerst eine Gruppe, die beim Aachener Wettbewerb gewonnen hat.
Aachen fragt sich dann: „Hast Du die Gruppe mit diesem Lied gehört?
Das war ja schön!“ Du sollst vor einem Gremium auf Stimmung etwas
bringen … das ist es nicht. Das Volk muss während einer ganzen
Session bestimmen. So entstehen Schlager, die auch über Jahre hinweg
Bestand in Aachen hätten.
Ich fand ja das Prinzenlied von Rolf IV. Gerrards, ‚Aix la Chapelle
…’, so schön. Das geht so unter die Haut, und Du kannst dabei
schunkeln. Die wehmütigen Schlager haben Erfolg. Es tut mir weh,
dass das Lied untergeht.“
Mit welcher
Person würden Du dich gerne über Karneval unterhalten?
„Am liebsten würde ich mich mit meiner vorherigen Generation über
Karneval unterhalten, um das mitzubekommen und zu erhalten, was ich
selbst nicht erlebte.“
Wir trafen
Gitta Haller bei van den Daele, im Traditionshaus "Alt Aachener
Kaffeestuben". 
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